Problemstellung und Motivation
Unternehmerische Risiken durch Nachfrageschwankungen oder Störungen der Lieferkette vergrößern sich in der Regel entlang einer Wertschöpfungskette, je nachdem, ob ein Unternehmen dem Endkunden (Ripple-Effekt) oder dem ersten Zulieferer nähersteht (Bullwhip-Effekt; Ivanov 2018). Viele Unternehmen der Lausitz lassen sich dabei eher der Gruppe der Zulieferer bzw. Dienstleister zuordnen (ZWL 2020a).
Für diese Unternehmen bestehen verschiedene Möglichkeiten, ihr unternehmerisches Risiko zu senken und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen (Wiendahl et al., 2014): Sie müssen widerstandsfähiger werden, flexibler auf sich heute stetig wandelnde Kundenanforderungen reagieren können (z. B. steigende Variantenvielfalt, sinkende Losgrößen) und/oder die Innovationskraft ihrer Organisation erhöhen, um Abhängigkeiten von einzelnen wenigen (End-) Kunden einer Lieferkette möglichst zu verringern. Dazu fehlen regionalen Unternehmen in der Breite jedoch eigene Forschungs- und Entwicklungskapazitäten und -ressourcen (F&E; ZWL 2020a). Neben organisatorischen und technischen Ansätzen (bspw. unter dem Stichwort „Industrie 4.0“; Kagermann et al. 2013) steht zur Erreichung dieser Ziele im Wesentlichen der Mensch als reaktives, innovatives Wesen im Mittelpunkt – trotz aller eventueller analytischer und physischer Überlegenheit von Maschinen (Breque et al. 2021; Tropschuh et al. 2021). Regional betrachtet weist dieser Umstand aber gleichzeitig auf eine weitere Problematik hin: die wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozesse in der Lausitz, inklusive des demographischen Wandels und eines Fachkräftemangels (ZWL 2020a).
Informatorische bzw. digitale Werkerassistenzsysteme beispielsweise mithilfe von Augmented-Reality- (zum Beispiel über die Microsoft HoloLens) oder Datenbrillen (zum Beispiel die Realwear HMT-1) versprechen eine nutzer- und kontext-spezifische Bereitstellung von Informationen durch die Kombination virtueller und realer Welten für eine bestmögliche Unterstützung während der Tätigkeitsausübung (Egger und Masood 2020). Aufgrund der Neuartigkeit dieser Technologien fehlen jedoch noch gesicherte Erkenntnisse für den Einsatz bei spezifischen Tätigkeiten in der Produktion sowie ihre konkreten psychischen und physischen Auswirkungen auf die Arbeiter, auf ganze Fertigungssysteme und umgekehrt.
Daher beforscht Factory4Future den Einsatz dieser Technologien, um zukünftig (informatorische) Werkerassistenzsysteme zielgerichtet nach den Gegebenheiten und Voraussetzungen der individuellen Arbeiter (Technologieakzeptanz, Belastung, Fähigkeiten etc.), der auszuübenden Tätigkeiten (Montage, Kommissionierung, Überwachung etc.) und der gesamten Produktionsziele einzusetzen. Dem demographischen Wandel und Fachkräftemangel wird begegnet, indem mithilfe dieser Technologien Einarbeitungszeiten und -kosten beispielsweise auch ungelernter oder umgeschulter Mitarbeiter durch “Training-on-the-Job“ verringert und flexibler gestaltet werden können (auch über verschiedene Standorte hinweg). Durch höherqualifizierte Mitarbeiter und flexiblen, zielgerichteten Technologieeinsatz steigert das Unternehmen gleichzeitig seine Anpassungswiderstands- und Wettbewerbsfähigkeit.
Forschungsfragen
Ausgehend von der dargestellten Problemstellung und Motivation widmet sich Factory4Future daher den folgenden Forschungsfragen auf interdisziplinäre Weise sowohl aus ingenieurspädagogischer Perspektive bzw. vom Standpunkt des technologiegestützten Lernens während der Arbeit und einer verhaltensökonomischen Perspektive bzw. vom Standpunkt des verhaltensorientierten Produktions- und Prozessmanagements:
- Inwiefern tragen informatorische Assistenzsysteme im Allgemeinen zur Lernfähigkeit der Mitarbeiter/innen in soziotechnischen Produktionssystemen bei und welche Auswirkungen haben diese auf die System- bzw. Prozessperformance der gesamten Produktion und damit die Organisation?
- Wie beeinflussen im Speziellen Assistenztechnologien die Kenngrößen in modellhaften Produktionsanwendungsfällen regionaler kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU)?
- Wie lassen sich die unter 1. und 2. gewonnenen Erkenntnisse in menschen-zentrierte Planungs- und Gestaltungsansätze des Produktionsmanagements überführen und für regionale KMUs nutzbar machen?